The Wonder Years - Transcript Folge 82: Entweder oder Drehbuch: Gina Goldmann Transcript: Daniel Görlich OPENING SEQUENCE OPENING TITLES Verschiedene Lehrer von KEVINs Schule werden vorgestellt. ERZÄHLER: Meine Lehrer an der Highschool gab es in jeder vorstellbaren Form, Größe und Stilrichtung. LEHRER #1: Hier steht die Lösung ... [zeigt an die Tafel, merkt, daß er vor der Lösung steht und rückt etwas zur Seite] ERZÄHLER: Es gab die hoffnungslos verwirrten ... LEHRERIN: ... hablo, hablas, habla. Ist das klar ? ERZÄHLER: ... die unheilbaren Wiederholer ... LEHRERIN: ... habla. Ist das klar ? Anmerkung: Das war Spanisch. Sollte Kevin tatsächlich in einem Spanischkurs gewesen sein ?! ERZÄHLER: ... die unerträglich langweiligen. LEHRER #2: Der Hundertjährige Krieg. Heute: Das Jahr 5. INT. TAG. ENGLISCHRAUM Der Kurs Englisch 2A. Die Lehrerin, Miss SHAW liest aus einem Buch vor und die ganze Klasse hört mit geschlossenen Augen zu. Jeder sitzt so und wo es ihm gefällt. HAROLD Grutner hat sich sogar einen Stehplatz am Fenster gesucht. Während sie alle lauschen, geht Miss SHAW langsam durch die Reihen. SHAW: [liest] Ich sah aus diesem Gesicht aus Elfenbein den Ausdruck düsteren Stolzes, skrupelloser Macht, Verachtung ... [liest weiter] ERZÄHLER: Aber unter allen Lehrern, die ich je hatte, gab es nur einen Menschen, der ... ein Naturtalent war. SHAW: ... Hätte er sein Leben noch einmal vor sich, mit allen Leidenschaften, der Sinnlichkeit und den Versuchungen ... ERZÄHLER: Miss Shaw gab den Kurs Englisch 2A. Sie hatte erst vor einem Jahr ihr Examen gemacht und hatte irgendwie etwas ... Cooles an sich. Sie führte keine Anwesenheitsliste - das hatte sie nicht nötig. Bei ihr durften wir sitzen, wo wir wollten. Und sie benutzte nie, niemals das Wort "Literatur". SHAW: ... ein Bild, eine lebendige Vision ließ ihn aufschreien. Er schrie zweimal, doch über seine Lippen kam nicht viel mehr als [flüstert] ein Flüstern: [kaum hörbar] "Das Grauen ! Das Grauen !" ERZÄHLER: Aber das vielleicht bemerkenswerteste an ihr war, daß sie das, was sie tat, wirklich gern tat. [Miss SHAW ist an KEVINs Platz angekommen.] SHAW: [normal, also freundlich] Okay, macht die Augen wieder auf, Leute ! Irgendwelche Fragen ? Kommentare ? Beschwerden ? Kevin ! Was hat Conrad gemeint, als er vom Grauen sprach ? Anmerkung: Gemeint ist vermutlich Joseph Conrad, ein britischer Erzähler polnischer Herkunft, der von 1857 bis 1924 lebte. In seinen Erzählungen und Büchern schildert er Menschen im Augenblick der Bewährung in einer ihnen fremden Welt. Zwei seiner Werke sind "Spiel des Zufalls" (1912) und "Der Verdammte der Insel" (1896). Das Zitat stammt aus "Heart of Darkness", das sie natuerlich hier downloaden können ! KEVIN: Ähm, na ja ... **** hat sein Leben gesehen. Das denk ich jedenfalls. SHAW: Ja. Und ? KEVIN: [zögernd] Er hat gesehen, wie grauenvoll es war. SHAW: Ja ! Und ? KEVIN: Und er ... er sah die Wahrheit. SHAW: [begeistert] So ist es ! Das Grauen, von dem er spricht, ist die Wahrheit ! [beugt sich zu KEVIN hinunter; leiser] Kevin, weißt du, daß du mir manchmal Angst machst ? ERZÄHLER: Ja, wir waren alle glücklich, daß wir Miss Shaw hatten. Auch wenn einige sie nicht begriffen. [Miss SHAW ist zum Lehrertisch zurückgekehrt. Ein Mädchen in der ersten Reihe, FELICIA meldet sich.] SHAW: Ja, Felicia ? FELICIA: Sollten wir das für unsere Semesterklausur wissen ? SHAW: Nein, Felicia. Das hier solltet ihr ... für's Leben wissen. [Alle lachen.] ERZÄHLER: Aber das beste war, daß die Frau es immer wieder schaffte, uns zu überraschen. SHAW: Hört mal her ! Wißt ihr, was ich hier in der Hand halte ? "Ivanhoe". 733 Seiten. Die Schulbehörde verlangt von euch, daß ihr das lest. Ich verlange das nicht ! [alle sind erleichtert] Was soll's - seien wir mal ehrlich: Es ist lang, es ist von vorgestern und es ist öde. Aber tut mir einen Gefallen, ja ? Nehmt euch eins und behaltet es bei euch - um den Schein zu wahren ... ihr wißt schon Bescheid. Anmerkung: "Ivanhoe" wurde von Sir Walter Scott geschrieben, einem schottischen Dichter (1771 - 1832), der als Begründer und Meister des historischen Romans der europäischen Romantik gilt. "Ivanhoe" verfaßte er 1820. FELICIA: [meldet sich und redet sofort los] Warten Sie ! Lesen wir's jetzt oder nicht ? SHAW: Nein ! Wir lesen das ! [Sie nimmt ein sehr viel dünneres Buch von einem Stapel.] SHAW: Den "Fänger im Roggen". Anmerkung: "The Catcher in the Rye" (1951) brachte dem am 1. Januar 1919 in New York City geborenen J. D. (Jerome David) Salinger den Durchbruch. Er schrieb hauptsächlich Kurzgeschichten und nur wenige Bücher. FELICIA: Weiß die Schulbehörde, daß wir nicht "Ivanhoe" lesen ? SHAW: Nicht, solange sie keinen Wind davon kriegen. FELICIA: Angenommen, sie finden's raus ... SHAW: Na ja - ich fürchte, dieses Risiko werden wir eingehen müssen. ERZÄHLER: Und genau das unterschied Miss Shaw von den anderen. [Es klingelt. Alle Schüler stürmen los.] SHAW: Nehmt euch jeder eins, bevor ihr geht ! ERZÄHLER: Sie riskierte etwas. SHAW: Und viel Vergnügen ! [kurze Pause] Ihr dürft nicht vergessen: Eltern sind eben Eltern - sie können nichts dafür. ERZÄHLER: Mit einem Wort: Sie öffnete Türen. INT. TAG. SCHULKORRIDOR KEVIN steht an seinem Schließfach und bekommt es auch mit kräftigem Rütteln nicht auf, während PAUL neben ihm überhaupt keine Probleme mit seinem hat. In ihrer Nähe steht der Hausmeister, Mr. LINZER auf einer Leiter, während die Schüler sich an ihm vorbeiquetschen. KEVIN: [verwirrt] Ich krieg das Schließfach nicht auf, Paul ! PAUL: Die Kombinationen sind neu. Man hat sie übers Wochenende geändert. Sicherheitsprobleme ! KEVIN: Und wie komm ich an meine Bücher ? PAUL: Wende dich doch an Linzer ! [schließt sein Fach und geht] KEVIN: [zu LINZER] Entschuldigen Sie ! [Es klingelt. LINZER kommt etwas schwerfällig die Leiter heruntergeklettert.] ERZÄHLER: Unglücklicherweise ist es an der Highschool keine leichte Aufgabe, Türen zu öffnen. KEVIN: Ich krieg das Schließfach nicht auf. Haben Sie 'nen Schlüssel ? LINZER: Äh, ja ! KEVIN: Toll ! LINZER: Das geht allerdings nur, wenn du ein 32C hast. KEVIN: Ein 32C ? LINZER: Das Formular zur Öffnungsermächtigung. ERZÄHLER: Ja natürlich ! Ein 32C ! LINZER: Die Dinger kann man sich im Büro abholen. Zwischen 12 und 14 Uhr. KEVIN: Ich brauch die Sachen aus dem Schließfach sofort ! LINZER: Also dann ... hast du ein Problem. KEVIN: Aber das hab ich Ihnen doch gesagt ! ERZÄHLER: Ich hatte es offenbar mit einem mittleren Dienstrang zu tun. Was ich brauchte war ... [KEVIN entdeckt Mr. VALENTI, der an der Tür seines Büros steht und sich mit einem anderen Lehrer unterhält, nur wenige Meter von KEVIN entfernt. Währenddessen klettert LINZER wieder auf seine Leiter klettert und arbeitet weiter.] ERZÄHLER: [zuversichtlich] ... Dr. Valenti. Unseren Direktor. Den Oberguru. KEVIN: [als VALENTI an ihm vorbeikommt] Entschuldigen Sie, Sir ! VALENTI: Wie heißen Sie ? KEVIN: Kevin Arnold. VALENTI: Sollten Sie nicht längst im Unterricht sitzen, Kevin Arnold ? KEVIN: Wissen Sie - das ist das Problem. Das Schließfach geht nicht auf, Sir. VALENTI: Ja, ja. Ich verstehe. Das werden wir in den Griff bekommen. [denkt nach] ERZÄHLER: Endlich ein Mann, der Hinternisse beiseite räumen konnte ! VALENTI: Ähm ... ERZÄHLER: Ein Kerl, der Berge versetzen konnte ! Ein Mann der Tat ! VALENTI: Sagen Sie es Linzer ! Hat mich sehr gefreut. Schön, daß ich helfen konnte. [geht] ERZÄHLER: Das Grauen ! Das Grauen ! EXT. TAG. SCHULHOF Miss SHAW sitzt an einem Baum auf der Wiese, während ihre Klasse im Halbkreis vor ihr sitzt. SHAW: Alles klar ? ERZÄHLER: Aber wenn unsere Schule das Herz der Dunkelheit war, war unser Englischkurs ein lichter Sonnenstrahl ! SHAW: Schön. Warum endet Holden in einer Nervenklinik ? Was glaubt ihr ? SCHÜLER: Holden Crosby (?) nimmt die Realität offenbar anders wahr, als sie ist. RICKY: Ja, weil er irre ist ! KEVIN: Er ist nicht irre ! Er ist dem System nur nicht gewachsen. HAROLD: [in Hippie-Kleidung] Das System nervt ! SCHÜLER: Stimmt. [Zwei andere Schüler stimmen zu.] RANDY: So ähnlich wie die Schule. [alle lachen] SHAW: Also das ist auf jeden Fall auch eine Sichtweise. ERZÄHLER: Das war das Tolle an Miss Shaw: Man brauchte in ihrem Unterricht nie ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Man konnte alles loswerden. SHAW: Hat noch einer Fragen, einen Kommentar ... ERZÄHLER: Wirklich alles. SHAW: Niemand ? [FELICIA meldet sich] Ja, Felicia ? FELICIA: Können wir vielleicht unsere Noten erfahren, bevor sie eingetragen werden ? [lautes Murren von allen anderen] SHAW: Wenn ich du wäre, würde ich mich nicht um Noten sorgen, Felicia. Ich verteile nur zwei Noten: Bestanden oder Durchgefallen. FELICIA: [überrascht] Können Sie das nochmal sagen ?! SHAW: Ich sagte: Bestanden oder Durchgefallen. ERZÄHLER: Bestanden oder Durchgefallen ... Es war erstaunlich. Ein bahnbrechendes Konzept ! Und wir reagierten so, wie jede Klasse reagieren würde. RANDY: Aber ich krieg von meinem Vater einen Dollar für jede Eins ! FELICIA: Und was passiert mit meinem Gesamtnotendurchschnitt ? RICKY: [erfreut] Sie meinen, ich krieg keine Fünf ? ERZÄHLER: Mit völliger Verwirrung. SHAW: Es ist kein Matheunterricht ! Richtige oder falsche Antworten gibt es nicht ! Hier gibt es nur Gedanken. Und die lassen sich nicht benoten. Und was ich von euch halte, ist sowieso ziemlich unwichtig ! Wichtig ist bloß, was ihr selbst von euch haltet. ERZÄHLER: Und mit diesen Worten machten wir uns auf, um Geschichte zu schreiben. Es gab nur einen Vorbehalt: KEVIN: Können Sie das wirklich machen ? SHAW: Ich mache es, ja. INT. ABEND. KüCHE KEVIN, WAYNE, MOM und DAD sitzen um den Küchentisch herum und essen Abendbrot. DAD: [blickt auf eine Art Notennachweis] "B" ... Was soll denn ein B sein ? Anmerkung: Im Amerikanischen ist B eigentlich eine normale Zensur, etwa eine 2. Im Original findet Dad auf dem Blatt vermutlich ein P (Passed - Bestanden). MOM: Ich glaube, das bedeutet "Bestanden", Schatz ! DAD: Ich weiß, was es bedeutet ! Ich frage mich nur, wo seine Note ist ! KEVIN: Weißt du, Dad, Miss Shaw sagt ... MOM: Damit fangen sie inzwischen auch in sehr vielen Kursen an der Universität an ! DAD: Großartig ! Wenn er an die Universität geht und es selbst bezahlt, dann kann er ein B kriegen. Aber solange ich für die Schule Steuern zahle, will ich eine Zensur sehen ! ERZÄHLER: Mmh. Offenbar kam dieser Plan im Hinterland nicht besonders gut an. KEVIN: Dad, ich glaube, du verstehst das nicht richtig ! DAD: [wirft ihm einen verärgerten Blick zu] Was du nicht sagst ! KEVIN: Ähm, na ja - Das ist doch kein Matheunterricht. Richtig oder falsch - das gibt es da nicht. Ich meine, Gedanken kann man nicht benoten, oder die Gesellschaft würde in, äh, in den Abgrund der Mittelmäßigkeit stürzen. [Auch dafür bekommt KEVIN einen verärgerten Blick zugeworfen. Eine kurze Zeit lang herrscht Schweigen.] KEVIN: Tja, wißt ihr, es ist doch unwichtig, was ihr von mir haltet. Es ist nur wichtig, was ich von mir halte. [Diesmal bekommt KEVIN einen besonderen Blick von beiden Elternteilen zugeworfen.] ERZÄHLER: Bitte ! Vom philosophischen Standpunkt aus gab es daran nichts zu rütteln ! DAD: Solange du die Füße unter meinen Tisch streckst, sollte es verdammt wichtig sein, was ich von dir halte ! [wirft KEVIN das Blatt neben seinen Teller] KEVIN: Klar. WAYNE: Ich finde, du bist klasse ! [lacht] ERZÄHLER: Soviel zur Philosophie ... INT. VORMITTAG. SCHULKORRIDOR KEVIN geht einen Gang entlang. Es klingelt. Er läuft etwas schneller, um Miss SHAW einzuholen, die etwas vor ihm läuft. KEVIN: Miss Shaw ? ERZÄHLER: Ich mußte mir etwas Klarheit verschaffen. SHAW: Kevin, würdest du hier bitte mal mit anfassen ? [Miss SHAW reicht KEVIN ein Stapel Blätter. Sie selbst trägt noch einige Ordner und - natürlich - noch mehr Blätter.] KEVIN: Was ist das ? SHAW: Das sind Anwesenheitslisten. Lästig, nicht ? KEVIN: Ja. SHAW: Wie kann ich dir helfen ? KEVIN: Wissen Sie, Miss Shaw, ich würd mit Ihnen gern über die ... SHAW: ... deine Benotung reden ? KEVIN: Ja. Die Sache ist ... SHAW: Das kam bei deinen Herrschaften wohl nicht so gut an, richtig ? KEVIN: Richtig. SHAW: Und du weißt nicht genau, wieso wir das tun, mmh ? [lachend] Es sind schon mehrere Leute bei mir gewesen. KEVIN: Oh. Also - wieso machen Sie es ? SHAW: Wieso nicht ? [KEVIN und Miss SHAW kommen an einer Tür vorbei. Wenige Sekunden später kommt Mr. VALENTI heraus.] VALENTI: Entschuldigen Sie, Miss Shaw ! [Beide drehen sich zu ihm um.] VALENTI: Dürfte ich Sie mal einen Augenblick sprechen ? SHAW: Ja, Dr. Valenti. VALENTI: Ich glaube, wir müssen über Ihr Benotungssystem reden. SHAW: Ja ? VALENTI: Ja, ja. Soetwas tun wir hier nicht. SHAW: Sie meinen, wir haben hier soetwas noch nicht getan... VALENTI: Miss Shaw, Schüler geben sich keine Mühe, wenn sie keine Noten kriegen ! SHAW: Aber meine Schüler geben sich wirklich große Mühe ! [VALENTI blickt zu KEVIN, der mit den Anwesenheitslisten auf dem Arm neben Miss SHAW steht und durch seine Mimik vollste Zustimmung ausdrückt.] VALENTI: Wir besprechen das lieber in meinem Büro. SHAW: [seufzt] Wieso nicht ... ERZÄHLER: Da hatten wir's. SHAW: [zu KEVIN; nimmt ihm die Listen ab] Also ich seh dich dann im Unterricht. [folgt VALENTI] ERZÄHLER: Soviel zum großen Sprung nach vorn. INT. TAG. ENGLISCHRAUM Wieder Englisch 2A bei Miss SHAW, die allerdings noch nicht da ist. Die Schüler, die wieder einmal so sitzen, wie sie wollen, nutzen die Zeit, um sich zu unterhalten. ERZÄHLER: Ich wußte, man hatte uns in voller Fahrt gestoppt, hatte uns ein Bein gestellt, uns zu Fall gebracht. Und uns blieb nichts übrig, als uns auf die schlecht Nachricht einzustellen. [Währenddessen ist Miss SHAW in den Raum gekommen.] SHAW: Bevor wir loslegen, will ich euch von einem äußerst interessanten Gespräch erzählen, das ich eben mit Dr. Valenti geführt habe. Oder vielmehr, das er mit mir geführt hat. Ich wurde darüber informiert, daß meine Methode gegen [ironisch] diverse bedeutende Schulverordnungen verstößt. Schön. Nach den geltenden Richtlinien ist es erforderlich, daß jeder von euch eine konventionelle Zensur erhält. Also, aus dem Grund habe ich entschieden, daß ihr nun doch auf konventionelle Art benotet werdet. [Ein Murren geht durch die Klasse.] RICKY: Jetzt geht mein B flöten. ERZÄHLER: Ich konnte es nicht fassen ! SHAW: Mit ... einer kleinen Besonderheit. [rhetorische Pause] Für eure Semesterzeugnisse wird jeder von euch selbst entscheiden, welche Note er kriegt. Habt ihr dazu etwas zu sagen ? ERZÄHLER: [zögerlich] Natürlich konnten wir dazu nur eins sagen: [Lautes Jubeln.] EXT. VORMITTAG. SCHULHOF Miss SHAW sitzt mit ihrer Klasse wieder unter dem Baum auf der Wiese. Es herrscht eine lockere Atmosphäre, obwohl alle zuhören und keiner stört. Einige Schüler liegen, einige haben sich sogar Decken mitgebracht - und von allen Seiten kommen Schüler aus anderen Kursen hinzu. ERZÄHLER: Im Laufe der nächsten paar Wochen entwickelte Miss Shaws Kurs eine Art Eigenleben. Es hatte sich herumgesprochen, daß hier alles anders lief. Die alten Regeln galten nicht. Anstatt Vorträge zu hören, diskutierten wir. Und dabei ging es nicht nur um Bücher, sondern um Ideen, um das Leben. Es war ein bißchen so, als würde man neben Che Guevara sitzen. Es war ziemlich cool ! Anmerkung: Eigentlich Ernesto Guevara Serna Lynch, geboren 1928. Er war ein kubanischer Revolutionär argentinischer Herkunft. Er bekam von den kubanischen Moncada-Flüchtlingen den Spitznamen "Che", was aus der Guarani-Indianer-Sprache stammt und soviel wie "mein" bedeutet. Für die argentinischen Pampasbewohner drückt es je nach Intonation und Kontext eine ganze Skala menschlicher Gefühle aus, darunter Verwunderung, Entzücken, Trauer, Zärtlichkeit, Zustimmung und Protest. 1966 reiste er nach Bolivien, um die dortige Revolution weiterzuführen. Schon ein knappes halbes Jahr später spürten ihn jedoch Agenten des CIA auf und veranlaßten eine Jagd durch 1500 Söldner. Nach seiner Gefangennahme im Oktober 1967 wurde er noch im selben Jahr erschossen. INT. TAG. SPORTHALLE Sportstunde. PAUL klettert ein Seil hoch, während KEVIN, RANDY Mitchell und einige andere unten warten. PAUL: Völliger Schwachsinn ! [springt auf die Matte] ERZÄHLER: Allerdings war das Echo nicht überall positiv. PAUL: Das ist doch nicht zu fassen, daß ihr Blödmänner euch selbst Noten geben dürft ! RANDY: Wieso nicht ? Wir sind doch verantwortungsbewußt. PAUL: Ach was, ist das wahr ? Was gebt ihr euch denn für Noten ? RANDY: Tja, mal überlegen. Ich, äh, ich geb mir glaub ich 'ne 1. PAUL: Wußt ich's doch. Das ist Wahnsinn ! RANDY: Okay. 1+. [beginnt zu klettern] ERZÄHLER: Offenbar teilte uns diese Frage in zwei Lager. Die Revolutionäre und - die Schnecken. KEVIN: Komm Paul, du bist neidisch ! Sei doch ehrlich ! PAUL: Ich bin nicht neidisch ! Ich fühl mich nur ungerecht behandelt. RANDY: [spring nach unten auf die Matte] Wegen was ? PAUL: Weswegen ! RANDY: 'schuldigung ! PAUL: Stellt euch vor, alle Lehrer würden sowas machen ! KEVIN: [nachdenklich] Na ja ... RANDY: Er hat recht. Das versaut den Schnitt. [klopft KEVIN auf die Schulter] Du kriegst 'ne 2. ERZÄHLER: Trotzdem war klar, daß dieses Thema nicht einfach unter den Tisch fallen würde. PAUL: Das lassen sie doch mit Sicherheit nicht durchgehen ! KEVIN: Wer denn ? PAUL: Die Schule. Die Schulbehörde ! KEVIN: Komm, hör auf, Paul ! Sie weiß genau, was sie tut. PAUL: Und das wäre ? ERZÄHLER: [langgezogen] Mmmh ... EXT. TAG. PARKPLATZ KEVIN holt Miss SHAW an ihrem Auto ein. Sie räumt gerade ihre Sachen in den Kofferraum. KEVIN: Miss Shaw ? ERZÄHLER: Offenbar brauchte ich noch etwas mehr Klarheit. KEVIN: Haben Sie kurz Zeit ? SHAW: Klar. Meine Zeit ist deine Zeit. Was gibt's denn ? KEVIN: Wissen Sie, es geht um die ... na ja ... SHAW: [wissend]... die Noten ! KEVIN: Ja. Es wird viel darüber geredet und, äh ... SHAW: ... die Leute wollen nicht glauben, daß ich einen Haufen Blödmänner wie euch soetwas entscheiden lasse, nicht ? ERZÄHLER: Was ? War diese Frau Hellseherin ? KEVIN: Ja. Na ja. Es ist schon außergewöhnlich, oder ? SHAW: Und was ist daran so verkehrt ? KEVIN: Äh, gar nichts ! Nur, daß wir nicht alle Einsen kriegen können. SHAW: Ach so ist das. Du würdest dir also selbst eine 1 geben ... Wirklich ? KEVIN: Nein. Sicher nicht. SHAW: Eine harte Entscheidung, nicht ? Das macht euch nachdenklich. Gut ! Du wirst schon sehen: Wenn es soweit ist, werde ich geradezu betteln müssen, damit ihr euch zumindest noch eine 3 gönnt. ERZÄHLER: Und da wurde mir klar, daß sie mehr als nur eine einzelne Lektion bereithielt. Sie hatte ein Gesamtkonzept. SHAW: Ich sag dir was: Trinken wir irgendwo einen Kaffee und unterhalten uns in Ruhe ! KEVIN: Gern. [Sie steigen ein und fahren los.] INT. NACHMITTAG. CAFE Miss SHAW und KEVIN sitzen sich gegenüber an einem Zweiertisch nahe dem Fenster. Ein Kellner bringt zwei Gläser Cappuccino. ERZÄHLER: An diesem Nachmittag geschah einiges. SHAW: [zum Kellner] Danke ****. ERZÄHLER: Ich trank meinen ersten Cappuccino. SHAW: Und, wie ist er ? Schmeckt er gut ? KEVIN: Die machen den gut hier. [KEVIN hat einen kleinen Bart aus Sahne über dem Mund. Miss SHAW weist ihn mit einer kleinen Geste darauf hin und er wischt sie sich schnell weg.] ERZÄHLER: Und ich lernte Miss Shaw kennen. SHAW: Also, was denkst du ? KEVIN: Hä ? SHAW: Über den Unterricht. Gefällt er dir ? KEVIN: Oh. Sehr sogar. SHAW: Ja. Ja, mir auch. ERZÄHLER: Wir unterhielten uns stundenlang - über Football und Beziehungen und natürlich über Bücher. SHAW: Mein Dad hat mir damals "Die Rote Maske" geschenkt, weißt du. Ich hatte noch nie vorher so ein Buch gelesen. Es war wie eine Falltür in eine andere Welt. Ich hab sogar das Atmen vergessen ! Ich hab's andauernd gelesen - so oft, bis der Buchrücken kaputt war. Mein Dad hat es ständig mit Klebeband repariert. ERZÄHLER: Und das Erstaunliche war: Es war nicht eine Minute langweilig ! Anmerkung: "Die Rote Maske" - keine Informationen gefunden. Es ist auf jeden Fall ein Kinderbuch. KELLNER: [kommt an den Tisch] Haben Sie noch einen Wunsch ? SHAW: [zu KEVIN] Willst du noch einen ? KEVIN: Oh. Ich hab noch. ERZÄHLER: Ich hatte noch nie jemanden kennengelernt, der so für seinen Beruf geschaffen war. Diese Frau hatte eine Gabe. Sie war ein Naturtalent SHAW: ... war nichts weiter als ein Kinderbuch, aber trotzdem - es ist eins der schönsten. INT. ABEND. KEVINS ZIMMER KEVIN liegt auf dem Bett und starrt an die Decke. ERZÄHLER: Vielleicht lag es an unserer Unterhaltung. Vielleicht war ich auch von den drei Tassen Cappuccino high - wie auch immer. An diesem Abend tat ich etwas, was ich vorher nie für möglich gehalten hätte. [KEVIN steht auf und nimmt ein dickes Buch von seinem Schreibtisch.] ERZÄHLER: Ich nahm mir meine Ausgabe von "Ivanhoe" - die ganzen 733 Seiten. Man konnte ja nie wissen - vielleicht erwarteten mich ein, zwei Überraschungen. INT. VORMITTAG. ENGLISCHRAUM Eine weitere Englischstunde. Die Tür öffnet sich und Dr. VALENTI blickt herein. VALENTI: Miss Shaw, ich möchte Sie mal sprechen. ERZÄHLER: Das Leben ist voller Überraschungen. SHAW: Ich bin gerade mitten im Unterricht ! VALENTI: Es geht ganz schnell. [kurze Pause] SHAW: [zur Klasse] Ihr habt's gehört. Ich komm gleich wieder. Inzwischen nehmt ihr euch ein Blatt und schreibt mir einen Absatz über ein Thema, das euch gerade durch den Kopf geht. FELICIA: Wie soll das Thema aussehen ? SHAW: Egal. Such dir was aus, Felicia. Und viel Vergnügen ! [geht] ERZÄHLER: Ja, Vergnügen ... Ich würde ja gern sagen, daß ich an diesem Tag etwas Tiefsinniges geschrieben habe, aber ... es wäre gelogen. Ich glaube, den anderen ging es genauso. [Miss SHAW kommt wieder.] SHAW: Okay, da bin ich. Reicht eure Blätter nach vorne ! Ich sehe schon, hier hat das Genie gewütet. [Die Blätter werden in die erste Reihe durchgegeben, wo Miss SHAW sie dann einsammelt.] SHAW: Ich freu mich darauf, das zu lesen. [Sie legt die Blätter auf den Lehrertisch und bleibt dort eine Weile mit dem Rücken zur Klasse stehen.] SHAW: [betrübt] Na ja. Es ist sicher sinnlos, euch im Ungewissen zu lassen - also ... los geht's: Dr. Valenti und ich hatten ein Gespräch. Offenbar hat das Schulamt bei ihm angerufen. Also haben wir uns hingesetzt und er hat mir erklärt, daß ich von nun an gezwungen sei, gemäß den staatlichen Richtlinien zu unterrichten - das betrifft das Curriculum, die Noten und alles andere. Seine Argumente waren gut durchdacht und vernünftig. Und er hat es mir überlassen zu entscheiden, was ich machen möchte. ERZÄHLER: Und so wie sie das sagte, wußten wir, was es bedeutete: Einen Kampf bis zum Letzten zwischen Miss Shaw und dem System. Das Recht gegen die Macht. SHAW: Also hab ich mich entschieden: Das ... ist mein letzter Tag. [Betroffenes Schweigen. Miss SHAW beginnt, einige Sachen einzupacken, aber sie wendet sich noch einmal an die Klasse.] SHAW: Danke. [Sie nimmt ihre Sachen und verläßt den Raum. Es herrscht immernoch Schweigen.] EXT. VORMITTAG. PARKPLATZ Miss SHAW ist dabei, die Sachen in ihrem Kofferraum zu räumen, als KEVIN sie einholt. KEVIN: Miss Shaw ! Miss Shaw, warten Sie ! ERZÄHLER: Ich konnte es nicht fassen ! Eben hatte sie uns noch unterrichtet und in der nächsten Minute ... KEVIN: Wo wollen Sie hin ? SHAW: Tut mit leid, Kevin. Ich kann einfach nicht anders. KEVIN: Sie können doch nicht so ohne weiteres gehen ! SHAW: Die haben mir ja keine Wahl gelassen ! KEVIN: Na ja, also wenn es um die Noten geht - das ist nicht so wichtig ! Dann benoten Sie uns eben - das macht nichts ! SHAW: Es sind nicht nur die Noten allein. KEVIN: Schön ... Wenn es wegen "Ivanhoe" ist - egal ! Den hab ich gelesen ! SHAW: Kevin ! Es ist eine einfache Sache: Sieh mal, ich bin Lehrerin, aber sie wollen mich nicht lehren lassen ! Jedenfalls nicht so, wie ich es kann. Also werde ich aufhören. ERZÄHLER: Und dann sagte sie etwas, was ich nie vergessen werde. SHAW: [schließt den Kofferraum] Das ist es einfach nicht wert. KEVIN: [kann es nicht fassen] Nicht wert, sagen Sie ? ERZÄHLER: Und obwohl ich es gehört hatte, traute ich meinen Ohren nicht. KEVIN: Das ist es nicht wert ?! SHAW: Ich weiß, du verstehst das. Das tust du doch ? [Inzwischen versammeln sich immer mehr Schüler des Kurses Englisch 2A in der Nähe und diskutieren heftig.] ERZÄHLER: Vielleicht hätte ich es verstehen sollen. All die Reibereien, die Frustrationen ... Aber ich konnte nur an eins denken: Nämlich, daß sie uns hängen ließ. [Miss SHAW steigt ein und schließt die Fahrertür.] RICKY: Was macht sie ? HAROLD: Sie zeigt Valenti, wo's lang geht. Das macht sie. SCHÜLER: Nicht schlecht. [Während Miss SHAW den Motor startet und langsam losfährt, klatschen die anderen Schüler Beifall und jubeln. Einige laufen ein kurzes Stück mit. Nur KEVIN weiß, daß es gar nichts zu Jubeln gibt.] ERZÄHLER: An diesem Nachmittag herrschte eine Art Feststimmung. Die Leute feierten die Jugend, den Enthusiasmus, den Idealismus. Sie bejubelten das Gute, das Aufrichtige - ... Da wußten sie noch nicht, was ich wußte. Aber sie fanden es heraus. INT. VORMITTAG. ENGLISCHRAUM Englisch 2A - bei Mr. RAPLY. Die Bänke stehen gerade, der Lehrer redet, die Schüler sind gelangweilt. KEVIN blickt aus dem Fenster. RAPLY: Die Heldenfigur ist, laut Definition aus Aristoteles' "Poetik", nicht von vornherein positiv gezeichnet, tugendhaft oder gerecht, sondern ... ERZÄHLER: Ich glaube, letztendlich hat Miss Shaw das getan, was für sie das Beste war. Keine Kompromisse - keine Reue. Sie hat nur nicht das getan, was für uns das Beste war. RAPLY: ... der im Laufe der Handlung unabwendbares, schweres Unglück erfährt. [RAPLY zieht mit einem Ruck das Rouleau zu. KEVIN schreckt auf.] ERZÄHLER: Aber selbst heute weiß ich noch nicht, worauf ich wütend sein soll: Auf sie ... EXT. VORMITTAG. STRASSE Miss SHAWs kleiner Wagen fährt allein eine schnurgerade Allee entlang. ERZÄHLER: ... oder das System, das sie vertrieben hat. CLOSING TITLES Dieses Transcript wurde von Daniel Görlich geschrieben. Eigentlich sollten keine Fehler in den Beschreibungen der Szenen vorhanden sein, aber wenn Sie welche finden, sagen Sie es mir bitte ! - Was die Bücher angeht, habe ich mich bemüht, alle richtig zu identifizieren. Wenn mir irgendwo ein Fehler unterlaufen ist oder ein Buch, eine Figur oder irgendetwas fehlt oder falsch benannt ist, sagen Sie mir das bitte auch - aber stellen Sie vorher sicher, daß Ihre Informationen hundertprozentig stimmen.